„Kinder sehen rund 15 Werbespots für ungesunde Lebensmittel pro Tag" – Interview mit Dr. Sarah Pomp
Dr. Sarah Pomp, Gesundheitspsychologin im AOK-Bundesverband AOK / Sarah Pomp
„99 Prozent der Kindercerealien enthalten zu viel Zucker“ – das ergab eine aktuelle Studie im Auftrag des AOK-Bundesverbands. Die AOK setzt sich seit Jahren für wirkungsvollere Maßnahmen gegen zu viel Zuckerkonsum ein. Warum und wie, darüber haben wir mit Dr. Sarah Pomp, Gesundheitspsychologin im AOK-Bundesverband, gesprochen.
Warum setzt die AOK bei ihrer Präventionsarbeit einen Fokus auf das Thema Zucker? Was ist das Problem bei einem zu hohen Zuckerkonsum? Betrifft das Thema nur die Ernährung von Kindern oder auch die von Erwachsenen?
Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt für Erwachsene täglich höchsten 50 Gramm zugesetzten Zucker und für Kinder nicht mehr als 25 Gramm. Ein Erwachsener in Deutschland konsumiert mit durchschnittlich 92 Gramm aber fast die doppelte Menge. Dieser hohe Zuckerkonsum fördert die Entstehung von Übergewicht und Adipositas sowie Karies. Das zeigt sich auch an den folgenden Zahlen: In Deutschland sind zwei Drittel der Männer und die Hälfte der Frauen übergewichtig. Ein Viertel der Erwachsenen ist adipös, also stark übergewichtig. Bei den Kindern und Jugendlichen sind dagegen zwar nur 15,4 Prozent übergewichtig und 5,9 Prozent adipös. Das Problem beim kindlichen Übergewicht ist jedoch, dass es meist ein Leben lang bestehen bleibt. Damit werden bereits in jungen Jahren die Weichen gestellt, später ernährungsbedingt zu erkranken. Allein die Folgekosten für Adipositas belaufen sich auf 63 Milliarden Euro jährlich, weitere acht Milliarden Euro jährlich entstehen durch die Behandlung von Karies.
Die AOK-Cerealienstudie 2020 ergab, dass 99 Prozent der in Deutschland gekauften und speziell an Kinder adressierten Frühstückscerealien die Grenzwert-Empfehlungen von 15 Gramm Zucker pro 100 Gramm der Weltgesundheitsorganisation (WHO) übersteigen. Gibt es hierfür eine Erklärung?
Süße ist von Natur aus eine angenehme Geschmacksrichtung. Daher schmecken zuckerhaltige Produkte den meisten Kindern und Erwachsenen gut. Die Industrie nutzt das gerne aus und setzt ihren Produkten deshalb Zucker zu. Auch weil es ein günstiger Rohstoff ist und der Gewinnmaximierung dient. Wenn Kinder häufig diese überzuckerten Produkte konsumieren, werden die Geschmacksgewohnheiten der Kinder früh geprägt – mit negativen Folgen für ihre Gesundheit. Leider ist der ernährungsphysiologische Nährwert von zugesetztem Zucker nahezu null. Dass Zucker ungesund ist, wissen sicher die meisten, dennoch können viele den Lockrufen der Lebensmittelindustrie nicht widerstehen, die genau diese Produkte massiv bewerben. So zeigt unsere neueste Studie zum Kindermarketing, dass Kinder täglich bis zu 15 Werbungen für ungesunde Lebensmitteln im TV und Internet ausgesetzt sind.
Gemeinsam mit dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) und der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) fordert der AOK-Bundesverband wirkungsvollere Maßnahmen gegen zu viel Zuckerkonsum. Welche Maßnahmen fordern Sie hier konkret?
Es braucht ein Bündel an Maßnahmen, um den Zuckerkonsum zu reduzieren. Die AOK fordert wie auch andere Gesundheits- und Verbraucherverbände, dass die Politik mehr Verantwortung übernimmt und gesunde Rahmenbedingungen in Deutschland schafft. Konkret heißt das: wir brauchen ein Verbot von an Kinder gerichteter Werbung für zuckerreiche oder andere hochkalorische Lebensmittel, die nicht dem Nährwertprofil der Weltgesundheitsorganisation entsprechen. Wichtig ist auch eine verbindliche Umsetzung der Standards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung für die Kita- und Schulverpflegung sowie die Einführung einer Softdrink-Steuer nach dem Vorbild Großbritanniens. Zur Stärkung der Ernährungskompetenz der Verbraucherinnen und Verbraucher war die Einführung des sogenannten Nutri-Score im letzten Jahr ein wichtiger Schritt. Hier bedarf es aber einer verpflichtenden Regelung für die Lebensmittelkennzeichnung auf EU-Ebene, damit die Kennzeichnung auch auf allen Verpackungen ihren Platz findet.
Die AOK unterstützt bundesweit Bildungsprogramme wie die GemüseAckerdemie. Welchen Beitrag können solche Projekte in Punkto Ernährungskompetenz und Zuckerkonsum bei Kindern leisten?
Programme zur Prävention und Gesundheitsförderung sollten auf zwei Säulen beruhen: der Verhaltens- und der Verhältnisprävention, d.h. es soll gesundes Verhalten gefördert werden und es sollen gesunde Rahmenbedingungen geschaffen werden. Die GemüseAckerdemie stärkt persönliche Kompetenzen rund um das Thema Ernährung und verändert Rahmenbedingungen durch das Anlegen von Schulgärten. Eine Evaluation der GemüseAckerdemie hat gezeigt, dass 79 Prozent der Schülerinnen und Schüler zunehmend neugieriger werden, neue Gemüsearten und -sorten auszuprobieren. Rund 90 Prozent der Jungen und Mädchen entwickelten mehr Wertschätzung für Gemüse und Lebensmittel. Erfolg versprechen wir uns auch von unserem neuen Programm „„AOK-Zuckerkompass“. Das Programm sensibilisiert Lehrkräfte, Kinder und Eltern für das Thema Zucker und hat das Ziel den Konsum nachhaltig zu verringern. Diese Programme leisten einen wichtigen Beitrag, aber sie reichen nicht aus. Gesundheitsförderung und Prävention kann nur dann die gewünschte Wirkung erzielen, wenn sie gesamtgesellschaftlich umgesetzt wird.
Welchen Rat möchten Sie Familien mit Kindern im Hinblick auf den Zuckerkonsum im Alltag mit auf den Weg geben?
Werfen Sie beim Einkaufen einen Blick auf das Kleingedruckte. Die Nährwerttabelle zeigt den Gesamtzuckergehalt der Produkte – dort wird allerdings der natürliche Zucker mit dem zugesetzten Zucker zusammengerechnet. In der Zutatenliste kann man diesen aber entlarven. Aber Achtung: für Zucker werden rund 70 verschiedene Begriffe verwendet. Am besten meiden Familien Fertigprodukte und kochen frisch. Damit minimieren sie den Konsum von versteckten bzw. zugesetzten Zuckern. Für unterwegs empfehle ich gesunde Snacks wie Obst oder Nüsse einzupacken. Eltern sollten aber auch nicht zu streng sein. Ein Mal am Tag dürfen Kinder auch eine kleine Süßigkeit essen.
Ganz herzlichen Dank für das Interview, Frau Dr. Pomp.